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Ein ganzes Leben in 30 Minuten

Autor: malerdeck am 13. Mai 2011

Als Handwerksunternehmer ist man nicht nur der Renovierungsspezialist oder der Verschönerungsexperte, sondern oft auch der Seelentröster. Bei meinen Kunden, die zu über 82% über 60 Jahre alt sind, trifft das ganz besonders zu.

Das ist eine sehr starke soziale Komponente. Oft höre ich mir die Geschichten an, die mir von der älteren Generation meiner Kunden erzählt werden. Da bin ich therapeutischer Gesprächspartner.

Ein ganzes Leben in 30 Minuten

Beispielhaft dafür, erzähle ich Ihnen heute die Geschichte einer 85-jährigen Kundin, bei der ich heute Nachmittag einen Besprechungstermin hatte. Nach der freundlichen Begrüßung zeigte sie mir die Fenster am Haus, die sie gestrichen haben will.

Nach Aufnahme aller von ihr gewünschten Leistungen, bat die gute Dame mich ins Wohnzimmer, wies mir einen Platz am Wohnzimmertisch zu und kredenzte mir einen Kaffee.

Natürlich ist es für mich immer eine Gratwanderung. Einerseits der Zeitdruck, wegen des nächsten Termins, andererseits die Zuwendung und Ansprache der Kundin. Oft plane ich deshalb etwas Puffer ein. Heute war das der Fall.

So erfuhr ich in ca. 30 Minuten die gesamte anrührende Lebensgeschichte dieser älteren Dame. In Kurzfassung:

  • Zu Beginn des zweiten Weltkrieges noch ein Kind.
  • Ihr späterer Mann kam aus dem Krieg als Kriegsversehrter heim. Ein Bein hatte er verloren.
  • Dann die Heirat.
  • Ihr Mann wollte studieren, was seine Eltern nicht finanzieren konnten.
  • So hat die Dame mit ihrem Beruf das Studium ihres Mannes finanziert.
  • Nach dem Studium sind beide berufstätig.
  • Ein Haus wird gebaut.
  • Das Ehepaar bekommt drei Kinder. Aus allen ist etwas geworden.
  • Nachdem die Kinder aus dem Haus sind und das Ehepaar in Rente ist, bereisen die beiden die Welt.
  • Bis der Mann krank und zum Pflegefall wird (Demenz).
  • Jahrelang pflegt die Dame aufopfernd ihren kranken Mann, bis er ins Pflegeheim muss.
  • Dort „vegetiert“, so die Dame, ihr Mann noch drei Jahre.
  • Vor ihm stirbt aber ihr ältester Sohn, der Oberarzt im Krankenhaus ist, mit 51 Jahren.. Sekundentod, erzählt sie mir.
  • Der Sohn starb ein Jahr vor seinem Vater, der das nicht mehr mitbekam.
  • Jetzt sitzt sie mit ihren 85 Jahren allein im Haus und weiß mit sich nicht richtig etwas anzufangen.

Oft stiegen ihr die Tränen in die Augen, als sie mir das alles erzählte. Sie musste sich schnäuzen und die Tränen aus den Augen wischen. Mein Part beschränkte sich auf aktives zuhören, manchmal einen Satz des Bedauerns und des Trostes.

Als ich dann aufbrechen musste, schien es der älteren Dame etwas besser zu gehen. Sie lächelte mich an und beim Abschied strahlte sie mich sogar ganz glücklich an. Es war für mich sehr anrührend, ihre Lebensgeschichte zu erleben und zu erfahren.

Zudem hatte ich auch ein gutes Gefühl beim Gehen. Habe ich doch der alten Dame 30 Minuten meine Anwesenheit, meine Aufmerksamkeit und meine Anteilnahme geschenkt. Sie hat es genossen und sich dabei offensichtlich wohl gefühlt. Kann es etwas schöneres geben, als jemanden mit in einem guten Gefühl zurückzulassen?

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